Frau Hugendubel ist wahrhaftig kein Morgenmensch. Jeden Morgen hat sie einen Moment völligen Unglaubens, in dem sie sich fragt, ob das tatsächlich das Morgengrauen sein kann, das durch den Rollladen blinzelt. Und während ihr Mann Operetten singend unter der Dusche den Tag begrüßt, schleppt sie sich mit hängenden Schultern auf den letzten Drücker ins Bad, und versucht blinzelnd ihre Zahnbürste zu ertasten. Morgenstund‘ hat für sie selten Gold im Mund, vielmehr den fahlen Geschmack von Müdigkeit.
Auch heute Morgen bohrt sich die Glühbirne unbarmherzig grell unter die Augenlider.
Sie sieht in den Spiegel.
Da steht sie. Zerknittert. Untersetzt. Müde Augenringe. Ungekämmt.
Eine ungeschminkte, nackte Wahrheit.
Jemand lacht. Frau Hugendubel schreckt zusammen und dreht sich um. Gott sitzt auf dem Rand der Badewanne. Offensichtlich ist er ebenfalls ein Morgenmensch, denn er scheint guter Dinge und wirkt so wach, als wäre er schon bei der zweiten Tasse Kaffee.
Eigentlich mag Frau Hugendubel morgens keinen im Badezimmer. Sie mag es nicht, wenn einer sie so sieht. So ungeschminkt. So als nackte Tatsache. Selbst bei Gott ist ihr das irgendwie unangenehm. (Auch wenn ihr klar ist, dass er theoretisch sowieso alles über sie weiß.)
Die unbeschwerten Tage, in denen sich Hilda Hugendubel keine Gedanken über Aussehen, Gewicht, Haben und Können machte, sind bereits mit der siebten Geburtstagskerze ausgeblasen. Jetzt denkt sie manchmal, das muss damals Himmel auf Erden gewesen sein.
Seither ist das Leben ein turbulentes Pendeln zwischen Über- und Untergewicht. Entweder sie ist Zuviel. Oder Zuwenig. Ideal und ausgeglichen gibts selten. Und der Perfektionist in ihr stößt immer öfter tiefe Seufzer aus.
Zuviel Gewicht auf der Waage, das ist ein altes Problem. Der Speck sitzt auf den Hüften seit dem ersten Liebeskummer. Fünfmal war sie unglücklich verliebt. Dann kam ein weiteres Röllchen für jedes Kind dazu.
Doch Innendrin fühlt sich Frau Hugendubel oft ebenso schwer und übergewichtig. Mutet sie Einem ihr Innerstes zu, denkt sie danach: Das war Zuviel. Oder: Ich rede zu laut. Oder: Ich sollte es nicht so schwernehmen. Es sollte nicht so ins Gewicht fallen. Man muss sich nicht so wichtig nehmen. Und manchmal lädt sie sich zuviel auf.
Untergewicht hatte sie auf der Waage noch keins, doch das Gefühl zu wenig zu sein, kennt sie sehr wohl. Nicht zu genügen. Was sie hat, scheint nie auszureichen. Was sie sagt, hat nicht genug Gewicht. Sie hat nicht genug getan. Ist nicht gut genug gewesen. Hat zu selten gebetet. Kaum Zeit gehabt. Ist ihren eigenen Erwartungen mal wieder nicht gerecht geworden. Und so muss Gott wohl auch von ihr enttäuscht sein. Und dann fühlt sie sich innerlich wie Haut und Knochen.
Schon Jahr und Tag ist Frau Hugendubel auf der Suche nach der gesunden Balance, dem inneren Gleichgewicht. Der Ausgeglichenheit. Doch der Pendel schlägt immer wieder aus. Irgendetwas an ihr ist immer zu schwer oder wiegt nicht genug. Und im Herzen bleibt die Sehnsucht nach Idealgewicht für Leib und Seele.
Gott nestelt umständlich in der Sakkotasche. Öffnet sein Brillenetui. Er steht vom Rand der Badewanne auf und stellt sich hinter Frau Hugendubel. Und gemeinsam blicken sie in ihr Spiegelbild.
Schönheit liegt ja bekanntlich im Auge des Betrachters. Er ist ein anderer Betrachter, das spürt sie, als sie so dastehen und sie ansehen. Ihre Stirn ist kritisch in Falten gelegt. Und Gott? Der trägt eine rosarote Brille. Er blickt sie irgendwie anders an. Sieht etwas Anderes in ihr. Sein Blick macht eine Andere aus ihr.
Und an diesem Morgen im Januar schließt Frau Hugendubel einfach die Augen und beschließt, Gottes Blick Glauben zu schenken.
Und für einen kurzen Moment fühlt es sich an wie Himmel auf Erden.
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gerlinde (Samstag, 28 März 2020 18:03)
wow, ins Herz geschaut �
ursula (Freitag, 05 Januar 2024 22:34)
Danke! Genau so fühlt sich jeder Morgen an. Gott sei Dank wartet Gott meistens bereits beim Aufwachen auf der Bettkante.