Neujahrsvorsatz: Öfter mal in den Wald gehen. Der hat so was Geruhsames, glättet mit seinem stillen Rauschen die Wogen des lauten Alltags. Da strahlt mir plötzlich vom dämmrigen Waldboden ein knallroter Fliegenpilz entgegen. „Oh, ich Glückliche!“ will ich mich freuen. Doch dann rufe ich die Gedanken zur Ordnung, denn eigentlich glaube ich ja gar nicht an Glücksbringer.
Eigentlich erstaunlich, dass ausgerechnet der Rotgetupfte hier ein Glückspilz sein soll. Denn auch wenn er sehr hübsch anzusehen ist, ist er auch gleichzeitig ganz schön unbekömmlich. Sein Gift wirkt wie K.O. Tropfen oder wie ein unheimlicher Rausch. Man sagt den alten Germanen nach, vor dem Kampf ein dampfendes Pilz-Raghu genossen zu haben, um keinen Schmerz mehr spürten. Ein etwas fragwürdiger Glücksmoment. Man munkelt auch, dass Fliegenpilze bei der Entstehung von „Alice im Wunderland“ eine begünstigende Rolle gespielt haben, denn mitunter lassen sie Kleines plötzlich groß erscheinen. Eine solch berühmte Geschichte meiner Feder entspringen zu lassen, hört sich verlockend an. Aber keine Angst, Fliegenpilze werden in meinem Fall keine Co-Autoren werden. Ich hoffe, ich kriege die Glücksgefühle noch woanders zu fassen statt in eingelegten Pilzen.
Ich knie mich ins Moos, sehe diesem Männlein im Walde in die Augen. Da steht es still und stumm, mit seinem extravaganten Mäntelchen und gemeinsam sinnen wir übers Glück.
Es scheint, wir alle sind unermüdlich auf der Suche danach. Glück zu finden, ist manchmal so mühsam und so selten wie einen Fliegenpilz zu entdecken, vor allem wenn man danach sucht.
Glück ist auch nicht immer, was so scheint. Auch wenn es in strahlenden Farben daherkommt und gut aussieht. Manches Glück stellt sich doch schnell als unbekömmlich heraus. Davon kann eine wie ich in der Lebensmitte schon eine Litanei singen. Von Wölfen in Schafpelzen. Und Schein statt Sein. Von Illusionen und Seifenblasen und Männern, die einem das große Glück versprechen. Mancher kommt wie ein Glücksfall daher, und lässt nur Herzschmerz zurück. Und der lässt sich in schlimmen Fällen auch nicht mehr mit kämpferischem Pilz-Raghu betäuben.
Manchmal kreuzt einer meinen Weg, der aussieht wie ein ausgesprochener Glückpilz und seine glücklichen roten Backen überstrahlen mein Alltagsgrau und ich denke: „Der hat‘s gut.“ Mein Glück zu vergleichen, ist immer genauso verführerisch wie unbekömmlich fürs eigene Seelenwohl. Und eigentlich hatte ich schon unzählige Male beschlossen, die Finger davon zu lassen – doch mein Blick schielt immer wieder neidvoll auf das extravagante Mäntelchen des Anderen. Woher kommt sie, diese ewige Angst vom Glück übersehen zu werden?
Dabei ist mein eigenes Glück unglaublich, wenn ich mal recht zusammenzähle: Himmelskind zu sein. Und Erdenbürger. Nicht alles zu müssen, aber so vieles zu dürfen. Eine Geschichte hinterlassen zu können. Jemandes Traumfrau zu sein. In Kinderaugen zu blicken, für die ich der wichtigste Mensch bin. Tun zu können, was ich liebe. Ein Familiennest zu haben, in dem auch über mich Flügel gebreitet werden. Und so vieles mehr. Unzählig vieles mehr. Ich staune einen langen überwältigten Glücksmoment. Manchmal bin ich so an mein Glück gewöhnt, dass es mir nicht mehr so knallrot ins Auge fällt wie der Glückspilz im Nachbars Garten.
Und so stehen wir eine ganze Weile nebeneinander, mein Pilz und ich. Wie Pünktchen und Anton. Es hat mir tatsächlich Glück gebracht, ihn zu treffen. Er hat mich erinnert, was für ein Glückspilz ich bin.
„Danke“ nicke ich zum Waldboden und dann in den Winterhimmel. „Danke.“ Und das kommt ganz tief aus meinem Herzen. Und während der Waldboden meine Heimwärtsschritte verschluckt, nehme mir vor zu tun, was mein rotgetupfter Freund heute für mich getan hat: Die anderen an ihr großes und kleines Glück zu erinnern.
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