Ein funkelnagelneues Jahr.
Da lag es plötzlich mir zu Füssen, so jungfräulich wie eine gerade zugeschneite weiße Decke. Ohne Spuren der Zeit, ohne Stiefelabdrücke, ohne weggeworfenen Müll. Einfach blank und weiß und pur und rein.
Die Glocke läutete Mitternacht und die explodierenden Silvesterkörper verglühten mit einem grellen Aufschrei im schwarzen Nachthimmel. Und jedes Jahr frage ich mich, schreien sie vor Zukunftsangst oder begeistertem Willkommenheißen? Und dann verstummten die lauten Begrüsser nach einiger Zeit und ich fühlte mich in ein stilles Niemandsland gestossen, in dem noch kein Vogel pfeift, noch kein Herz Leben pumpt, noch keine Brust sich hebt und senkt. Die Stille vor dem ersten Schrei des Neugeborenen.
Und da stehe ich, das Herz zwischen wehmütig und erwartungsfroh hin und her gerissen.
Die Hände lösen sich nur schwer vom Grenzzaun des Jahreswechsels. Klar, so manches Gepäck lässt man auch gerne zurück, aber da ist auch so Vieles was man umarmt und liebgewonnen hat. So viel Gutes liegt in dem durchwanderten Land des letzten Jahres. So viele mit Erinnerungen vollgestopfte Tage, so viel Segen.
Es tut mir gut, nochmal innezuhalten. Wie in einem altmodischen Kinosaal nehme ich die Filmrolle des vergangenen Jahres und lasse mich mit meiner Tüte Popcorn in den samtbezogenen Sessel fallen. Und so ziehen die alten Tage an meinem inneren Auge nochmals vorbei. Besonders gelungenen Auftritte, Spannungsmomente und dramatische Höhepunkte. Die enttäuschte Hoffnung auf ein Happyend mancher Frequenzen.
So einiges an Bildern, Wunderbarem, Dazugelerntem, schmerzlichen Fragen und Gotteserkenntnis will ich gut verschnüren, in meinen Koffer packen und mit mir über den Zaun heben. Der Rest muss bleiben, denn ich will mich mit leichtem Gepäck in die Zukunft aufmachen.
Ich fühle mich so sentimental, als würde ich meinen alten Wintermantel entgültig in den Alt-Kleidersack stopfen. Ich habe mich in ihm wohlgefühlt. Er trägt die Spuren meines Alltags, seine Flecken und Falten. Er ist von meinem Körper ausgebeult, zugeschnittenes Zuhause geworden. Ja, vielleicht ist er abgenutzt und nicht mehr zeitgemäss, das Innenfutter dünn und ausgefranst, aber das gemütlich-bequeme Gefühl gibt mir kein zweiter. Auch kein noch so schnittiges Designerstück.
Wird diese neue Zeit mir passen? Werde ich sie füllen und hineinwachsen können? Werde ich ein dickeres Fell brauchen? Mich warm anziehen müssen für aufziehende Stürme? Wird mein Alltag hier Heimat finden und gezähmt werden und Vertrauen fassen?
Hier jenseits des Grenzzaunes bin ich noch ein völlig unbeschriebenes Blatt. Noch nichts trägt meine Handschrift. Und in dem vielen Weiß, in dem ich erst meinen Platz finden muss, da gibt es auf einmal wieder endlos viel Raum zum Tagträumen. Hier ist noch nicht alles vollgestopft und festgelegt. Hier kann ich Pläne schmieden, aus der Box denken. Luftschlösser bauen. Das Unmögliche erbitten. Über Verrücktes nachdenken. Mich neu herausfordern. Ausgetretene Wege verlassen oder man völlig die Richtung ändern, weil noch keine vorgegeben ist.
Hach, und nach der Wehmut erwacht der Abenteuergeist. Ich will mal wieder spontan wegfliegen, das Meeresbrausen wieder mit eigenen Ohren hören. Der Routine ein Schnippchen schlagen und den Kuchen beim Bäcker im Nachbardorf kaufen. Statt Status quo mal hoch hinaus wollen. Göttlichen Eingebungen öfter mein Ohr leihen. Den Alltag auf den Kopf stellen. Eine alteingesessene Angst besiegen. Das Gewohnheitstier in mir von der Couch jagen und zu neuer Musik durch den Garten tanzen. Mir einen unvernünftigen Luxus leisten. Spinnweben aus der Seele blasen. Eine neue Hausordnung schreiben. Mich mal wieder richtig aus dem Fenster lehnen.
Und lieber Terminkalender, ich werde deinen zwanghaften Neurosen Einhalt gebieten und deine Dringlichkeiten durcheinanderwerfen, bis das wirklich Wichtige in dieser neu geschenkten Zeit seinen Platz gefunden hat.
Ach, und heute fahre ich in die Stadt. Ich glaube, es ist Zeit für einen neuen Wintermantel.
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