Als ich sechs war, fand ich Mädchen cool, die Brille trugen. Warum hatten sie, was ich nicht hatte? Die Welt schien mir nicht fair.
Ein unglaublich cleverer Gedanke sollte mir selbst beim nächsten Besuch des Schularztes zu meinem Glück verhelfen. Ich nahm also aufgeregt und kerzengerade auf dem grau-melierten Plastikstuhl Platz, auf dem mein Sehvermögen getestet werden sollte. Meine Füße baumelten in roten Schuhen über dem Boden. Mit beindruckend zusammengekniffenen Augen gab ich mir mühe so angestrengt wie möglich zu wirken, während ich langsam die zum Bildrand immer kleiner werdenden Buchstaben entzifferte.
Ich weiß nicht wie lange ich vorlesen musste bis die Frau im weißen Kittel endlich die Tatsache akzeptierte, dass ich eine Brille brauchte. Ehrlich gesagt – irgendwann gab sie genervt den Sehtest einfach auf. Ganz so überzeugend beherrschte ich mein kleines Spiel doch nicht und es war offensichtlich dass ich sehen konnte, aber nicht wollte.
Doch den Preis gewann ich trotzdem und wie eine Siegestrophäe nahm ich die Überweisung zum Augenarzt in Empfang.
„Ich brauche eine Brille“, verkündete ich zu Hause stolz.
So lernte ich zum ersten Mal einen richtigen Augenarzt kennen. Übung macht den Meister. Denn nach einigem angestrengten Nachdenken war mir klar geworden, dass ich – um meine Sehschwäche noch glaubhafter zu machen – doch besser die letzte Zeile der angezeigten Ziffern und Buchstaben nicht vorlesen sollte, statt immer nur die A’s und E’s auszulassen wie beim ersten Mal.
So kam ich zu meiner ersten Brille. Ein schmales silbernes Kassengestell mit überdurchschnittlich großen Gläsern die mich wie eine erschreckte Stubenfliege aussehen lassen, wenn ich heute die Fotos betrachte. Doch das trug man wohl damals so.
Eigentlich konnte ich perfekt sehen. Ich hatte vielleicht keine Adleraugen, aber ich konnte alles in Nähe und Ferne gut erkennen.
Mit der neuen Brille war ich allerdings plötzlich wirklich kurzsichtig. Alles in größerer Distanz verschwamm vor meinen Augen. Ich bekam Kopfschmerzen. Ich lernte die Wahrheit des Sprichwortes: „wer schön sein will muss leiden“ und hielt es inzwischen für nicht mehr so cool, eine Brille zu tragen. Es brachte eigentlich nur Nachteile mit sich, musste ich desillusioniert feststellen. Natürlich bestand meine Mutter darauf dass ich die Brille jeden Tag trug. Und aus schlechtem Gewissen behielt ich die Wahrheit für mich.
Heute bin ich immer noch Brillenträgerin. Nicht weil ich unbedingt überzeugt bin eine Brille verschönert mein Gesicht (auch wenn ich mich bemühe keine Stubenfliegen-Modelle mehr auszuwählen). Sondern weil sich – vielleicht auch bedingt durch mein kleines Trickspiel – meine Sehwerte verschlechterten und ich nun tatsächlich kurzsichtig bin.
Als ich vor einigen Jahren mit tränenden Augen vor dem Spiegel stand und versuchte, mir für meine bevorstehende Hochzeit Kontaktlinsen auf die brennenden Pupillen zu zwängen, fiel mir diese Geschichte wieder ein. Innerlich laut lachend gab ich dem Optiker die Kontaktlinsen zurück. Ich habe mit Brille geheiratet.
Doch da war noch etwas, das mir dadurch bewusst wurde.
Gott liebte mich so sehr, dass er mir nicht nur ein Paar Augen gab, sondern zwei. Ein Paar für meinen Körper, für alles das, was sichtbar um mich herum passiert. Um dem Mann in die Augen zu sehen, den ich liebe. Um Wolken am Himmel ziehen zu sehen. Um zu wissen, an welcher Kreuzung die Ampel rot leuchtet und um meine Geburtstagskarten lesen zu können.
Die anderen nannte er Augen des Herzens. Oder des Glauben. Diese Augen können ihn sehen. Sie sind für das Unsichtbare. Manche sagen: „Ich glaube nur was ich sehe.“ Und doch kenne ich eigentlich keinen, dem diese selbstgewählte Blindheit genügt. Wir alle haben Sehnsucht zu sehen. Innerlich und äußerlich. Weil wir so geschaffen sind, mit zwei paar Augen.
Doch wie meine äußeren Augen schlechter oder sogar blind werden können, so auch die inneren. Wie damals als Sechsjährige bestehe ich darauf eine Brille tragen zu wollen, die meinen Blick des Herzens verschwimmen lässt. Ich habe nicht nur eine davon, sondern eine ganze Schublade voller Brillen. Zeitweise versuche ich sogar zwei gleichzeitig zu tragen und an manchen Tagen schiebe ich sogar noch eine Sonnenbrille davor, um mich davor zu schützen dass Licht in mein Leben fällt.
Da ist zum Beispiel die Brille, die meistens schmutzige Gläser hat, weil ich sie selten mal putze. Ich nenne sie die Unvergebenheits – Brille. Oder die Rote, mit der ich wie ein Stoppschild aussehe. Misstrauen. Bitterkeit, ziemlich dunkles Modell. Sarkasmus. Vorurteil. Die lila Ärger-Brille. Hoffnungslosigkeit, dunkelgraues Modell. Ich besitze auch noch eines in hellgrau. Stolz. Unglaube. Egoismus, übrigens die Brille, die meist obenauf in der Schublade liegt, immer griffbereit.
Ich könnte es mir eigentlich auch leichter machen und einfach alle Modelle in meiner Brillen-Schublade Sünde nennen. Denn sie alle ausnahmslos nehmen mir den Blick auf den Gott den ich liebe und auf sein Reich für das ich lebe. Sie nehmen mir die Fähigkeit so zu sehen wie er. Die Menschen die mich umgeben wahrzunehmen, mit all der Schönheit und dem Potential das sie in sich tragen. Nicht nur kurzsichtig zu investieren.
Ich kann keine Fehler rückgängig machen die ich als Sechsjährige begangen habe. Ich werde vielleicht für den Rest meines Lebens eine Brille tragen. Doch wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich gerne immer wieder eine meiner inneren Brillen zur Mülltonne tragen. Ich brauche nicht noch mehr falsche Sehhilfen, ich brauche einen klaren Blick auf ihn, meinen Gott um immer mehr zu sehen wie er. Und irgendwann würde ich gerne mit einer leeren Brillen-Schublade sterben, um endlich das zu sehen, woran ich geglaubt habe.
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